von Richard Russo

2019 erschienen bei Allen & Unwin

Link zum Buch – und zur deutschen Ausgabe

Dieses Buch habe ich im Original auf englisch gelesen, rezensiere aber auf deutsch. Die deutsche Ausgabe heisst „Jenseits der Erwartungen“ und ist im Mai 2020 beim Dumontverlag erschienen.

Ich muss vorausschicken, Russo ist preisgekrönter Autor amerikanischer Gegenwartsliteratur, ich habe allerdings noch nie etwas von ihm gelesen, und war gespannt.

Ja, und ich bin begeistert. Und ich bin auch froh, das Original gelesen zu haben. Russo ist ein begnadeter Erzähler. In ruhigem Tempo, trotzdem niemals langatmig, entfaltet sich hier das Portrait einer Freundschaft dreier Männer, die wir in Rückblicken von ihrer Collegezeit in den späten 60ern, Anfang 70er bis heute begleiten. Der Klappentext verrät, Thema des Buches ist „a riveting story about the abiding yet complex power of friendship“.

Teddy, Lincoln und Mickey könnten unterschiedlicher nicht sein, und treffen auf dem College aufeinander. Sie werden unzertrennlich, und lieben alle dasselbe Mädchen: Jacy, ein wilder Geist aus reichem Elternhaus, ist die Vierte im Bunde. Im Sommer 1971 verleben sie ein letztes gemeinsames Wochenende im Ferienhaus von Lincolns Mutter auf Martha’s Vineyard. 2015 treffen sie sich wieder: Lincoln, Immobilienmakler mit finanziellen Problemen, Teddy, Herausgeber eines kleines Verlages und immer noch auf der Suche nach sich selbst, und Mickey, ein alternder Rock’n’Roller. Nur Jacy fehlt, und das schon seit 1971 – und die Männer müssen sich ihrer Vergangenheit stellen.

Interessante Ausgangsituation, und durch das mysteriöse Verschwinden Jacys, das niemals geklärt werden konnte, ergibt sich hier noch ein Krimi-Element als weiterer Erzählstrang.

Was mich aber gefesselt hat, war einfach die Geschichte der Freundschaft, und vor allem immer wieder die Frage, die sich wahrscheinlich jeder beim Älter-werden stellt. Habe ich alles richtig gemacht? Was bedaure ich? Waren meine Entscheidungen moralisch integer? Soll ich nochmal das Steuer herumreissen? Habe ich mein Leben wirklich gelebt? Welche Rolle spielen Herkunft und Geld beim Spiel des Lebens? Und ist es manchmal nicht pures Glück, was mit einem passiert? In den 60ern gab es in den USA öffentliche TV-Lotterien, und das Losglück entschied, welche Geburtstagskinder gewisser Jahrgänge als erstes nach Vietnam eingezogen wurden. Davon hab ich tatsächlich noch nie etwas gehört, das hab ich erstmal googeln müssen, und ja, Mickey hat auf diese Weise die A****karte gezogen und war per Losentscheid quasi auf dem Weg zur Army.

  Ich glaube, dieses Buch wird die jüngeren Generationen nicht wirklich vom Hocker reissen, aber für etwas Ältere – ich bin jetzt 49, mich trennen von den 66-jährigen „Jungs“ auch noch ein paar Jahre 😉! – ist das spannend. Einfach weil man ab einem gewissen Alter sein Leben reflektiert, und sich ähnliche Fragen stellt.

Davon abgesehen, zurück zum Inhalt, während des Wochenendes 2015 finden sich diverse lose Enden, und natürlich wird der Fall Jacy gelöst – allerdings komplett anders, als ich dachte, und von daher waren die letzten 50 Seiten nochmal page-turner. Ich war bestens unterhalten, und habe auch die nachdenklichen Aspekte sehr genossen. Kein Buch zum Nebenherlesen, eines zum Geniessen.

Und für mich war es bestimmt nicht das letzte Buch von Russo, das ich gelesen habe!

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