von Miranda Cowley Heller
Erschienen 2021 by Viking / Penguin Books – im März 22 soll die deutsche Ausgabe „Der Papier Palast“ erscheinen im Ullsteinverlag
Link zur Originalausgabe und zur deutschen Version
„The Paper Palace“ war erneut eine Empfehlung von Reeses Book Club, dem Buchclub von und mit Reese Witherspoon – und mittlerweile vertraue ich diesen Auswahlbüchern auch blind, das sind immer spannende Romane von für mich neuen Autorinnen. Nun also The Paper Palace: das ist der Name vom Cape Cod Sommercamp der Familie Bishop. Aussen wunderschön, innen leider mit viel Papier ausgekleidet und so dem Zahn der Zeit ausgesetzt, aber nichtsdestotrotz heissgeliebtes Sommerrefugium der ganzen Familie. Elles Grossvater hat den Paper Palace erbaut, und seitdem verbringen die Bishops in wechselnden Konstellationen dort die heissen Wochen des Jahres.
Das Buch beginnt an einem Augustmorgen. Elle ist schon früh unterwegs, um alleine im See hinter dem Palace zu schwimmen. Dabei lässt sie den gestrigen Abend Revue passieren. Es gab ein geselliges Beisammensein mit ihrer Mutter, ihrem Mann, den Kindern und Freunden – und zwischendurch hat Elle Zeit gefunden, ihren Mann mit ihrem besten Freund zu betrügen. Elle liebt sowohl ihren Mann als auch ihren besten Freund, und aus dieser Ausgangssituation heraus beginnt sich die Geschichte zu entfalten. Über die Spanne von einem einzigen Tag und 50 Jahren erzählt uns Elle ihr komplettes Leben. Der Klappentext verrät: „ Decades of family secrets and one unspeakable childhood incident will force Elle to decide between her much-loved husband and the life she imagined with her first love if tragedy hadn’t changed the course of their lives.“. Die Kapitel wechseln sich clever miteinander ab: Der heutige Tag wird stundengenau rekapituliert, und immer wieder zwischendurch gibt es Episoden aus der Vergangenheit. Elle ist einer Patchworkfamilie aufgewachsen, und die einzige Konstante in ihrem Leben waren die Sommer in Cape Cod. Stiefmütter und -väter mögen kommen und gehen, ebenso Stiefgeschwister und Stiefgrosseltern, aber der Paperpalace im Sommer bleibt. Ebenso wie Anna, ihre grosse Schwester, und Jonas, bester Freund aus Kindertagen.
Puh, jetzt sitze ich hier und überlege, was ich zum Inhalt schreiben könnte ohne zu spoilern. Und wie ich das Buch einsortieren soll. Das Buch macht es einem nicht leicht. Was ist es? Memoir? Gesellschaftsportrait der oberen Mittelklasse der 60-90er Jahre? Lovestory? Krimi? Denn wir haben hier auch sexuellen Missbrauch, ich glaub, das kann man so spoilern. Vielleicht sollte man das sogar als Triggerwarnung abgeben (obwohl ich ja kein Fan von Triggerwarnungen bin). Der Roman ist super vielschichtig, und regt zum Nachdenken an. Es geht um Rache, um Schuld, und darum, wie man dann hinterher mit der Schuld weiterleben kann, ohne daran zu zerbrechen. Prinzipiell ist alles drin, was das Leben so bietet, und das Leben lässt sich ja auch nicht auf ein einziges Genre zurechtbiegen.
Ich fand das Buch klasse. Mich hat es gefesselt. Hat mich echt abgeholt. Ich fand die Protagonisten glaubwürdig. Nicht alle Ereignisse waren schön – aber so ist das Leben. Nicht alles ist schön. Aber das sind dann auch die Dinge, die einen prägen, und ich fand es spannend, Elles Entwicklung mitzuerleben.
Die ganzen Familiendynamiken haben mich auch fasziniert. Wobei mich Patchwork-Dynamiken sowieso interessieren. In zusammengewürfelten Familien ist ja nie etwas einfach oder nur schwarz oder weiss. Und genau hier hat die Autorin die Dinge gut seziert.
Ich fand auch den Erzählstil aussergewöhnlich gut. Das hier ist zwar flüssig geschrieben, aber trotzdem ist das Englisch hier etwas eleganter als der, wie drücke ich es mal aus, mainstream. Die Sprache ist „more sophisticated“ als viele andere englische Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Wahrscheinlich fällt das einem englischem Muttersprachler gar nicht auf, aber hier hatte ich schon einige Ausdrücke, die mir nicht geläufig waren. Ich hatte trotzdem keine Probleme, den Roman zu lesen, aber das sprachliche Niveau ist schon etwas höher. Fand ich aber gut. Wäre zu wünschen, dass diese Eleganz später in der deutschen Übersetzung auch zu finden ist.
Ja, und jetzt nochmal den Bogen zu schliessen zu der grossen Frage, die sich Elle eingangs stellt: welchen Mann soll sie wählen? Sie kommt natürlich ganz am Ende zu einer Entscheidung, die sie dann aber nicht mehr ausführt – hier endet dann das Buch. Da hätte ich mir jetzt ein bischen mehr gewünscht. Jetzt bin ich schon knapp 400 Seiten mit ihr durch ihr komplettes Leben gereist, da hätte ich jetzt gerne am Ende ein bisschen mehr noch gehabt, das Ende war jetzt für mich ein wenig unbefriedigend.
Ich habe mal anderer Rezensionen hierzu angesehen und festgestellt, dass sich an diesem Buch die Geister ziemlich scheiden. Auch interessant. Dieser Roman ist nicht jedermanns Sache. Ist halt kein Wohlfühlroman, obwohl die Kulisse schon toll ist. Cape Cod stelle ich mir sehr idyllisch vor. Die Autorin hat selbst sehr viele Sommer dort verbracht, und sie schildert die Gegend kenntnisreich. Da hab ich Lust, selbst gleich hinzufahren. Aber auch die Idyllen können tückisch sein….
Alles in allem: Daumen hoch. Ich habe das Buch in ein paar Tagen durchgelesen gehabt, ich war gefesselt.