von Annie Ernaux

erschienen 2001, hier: Neuerscheinung 2021 Fitzcarraldo Editions

Zeitgleich im Herbst 2021 ist das Buch übrigens auch im Suhrkampverlag auf Deutsch neu herausgebracht worden; der deutsche Titel lautet: Das Ereignis.

Link zur englischen und zur deutschen Ausgabe

Und man sollte dazu sagen, die Originalversion ist natürlich auf Französisch. Annie Ernaux ist eine der gefeiertesten Stimmen der zeitgenössischen französischen Literatur. Kurz ein paar Daten zu ihr – ich kannte sie nämlich bislang auch noch nicht: Mme Ernaux wurde 1940 in der Normandie in bescheidenen Verhältnissen geboren, studierte in Rouen und Bordeaux, arbeitete als Lehrerin und publizierte 1974 ihren ersten autobiographischen Roman. Ihre Romane und Essays sind übrigens fast alle autobiographisch geprägt, und sie wird dafür gefeiert, dass sie präzise die sozialen Verhältnisse beschreibt und ihren Finger gut in alle Wunden der Gesellschaft legt – ohne, so sage ich jetzt mal, mit erhobenem Zeigefinger herumwerkelt.  Sie ist eine schonungslose Zeitzeugin.

Und bevor ich jetzt auf das „Happening“ eingehe, noch eine kurze Bemerkung, warum ich das Buch auf englisch gelesen habe. Zum einen, mein Französisch langt nicht fürs Original, zum anderen bin ich langsam echt zu geizig, die Preise der deutschen Buchpreisbindung zu bezahlen, wenn es gleichzeitig eine englische Ausgabe gibt, die nur die Hälfte kostet. Dank der aktuellen Papierkrise werden die Bücher demnächst generell echt teuer werden, darauf stelle ich mich ja schon mental ein, aber als Vielleser muss ich ja schauen, wo ich bleibe…. Wir sprechen beim „Happening“ übrigens von einem 70 (!) – seitigem Essay, für das ich EUR 8,50 bezahlt habe. Die deutsche Ausgabe kostet 18,- EUR. Nur mal als kleiner Vergleich.

So, aber jetzt: Wir sind in Rouen im Jahr 1963. Annie ist Studentin und ungewollt schwanger. Der dazugehörige Kindsvater war eine Affaire, und für Annie ist klar: sie wird das Kind nicht bekommen. Auf gar keinen Fall, unter gar keinen Umständen. Als ledige Mutter kann sie in diesen Zeiten nämlich alles vergessen, was sie für ihr Leben geplant hat. Die akademische Karriere wäre aus und vorbei, und der soziale Abstieg vorprogrammiert. Aber im Frankreich 1963 sind Abtreibungen gesetzlich verboten, und Annie hat überhaupt keine Ahnung, an wen sie sich wenden kann. Wen man mit diesem Geheimnis überhaupt „belasten“ kann. Wo man abtreiben kann. Und so treibt sie im Winter 1963 wochenlang vor sich hin, bis sie eine Engelmacherin findet und am Ende im Krankenhaus landet…. Dies sind die Erinnerungen an diese Zeit, an dieses Ereignis. Mehr als 40 Jahre später aufgeschrieben und literarisch verarbeitet. Aber immer noch erzählt mit einer Wucht, einer Präsenz, als ob es erst gestern geschehen wäre. Ohne irgendetwas zu romantisieren, mit präziser Sprache, berichtet die Autorin, wie es ihr ergangen ist, vom Zeitpunkt, als sie die Schwangerschaft festgestellt hat, bis zu der Zeit „danach“. Denn danach ist sie nicht mehr dieselbe wie vorher. Es geht um Scham, und es geht um die Verletzungen und Stigmatisierungen, die sie erfahren hat auf ihrem Weg, eine Abtreibungsmöglichkeit zu finden.

Ich fand es super krass, wie allein gelassen sie war in ihrer Misere, und wie erschreckend die gesellschaftlichen Normen und Zwänge auf sie eingewirkt haben. Und ich denke mal, dass es heutzutage soviel anders auch nicht ist. Wir sind ja ach so liberal, aber beim Thema Abtreibung hört das ja schon wieder auf mit der Liberalität, und ich  denke, das Essay hat an Aktualität nicht verloren.

Wir nehmen als Leser hier auf jeden Fall teil an einer Zeit, die die Autorin geprägt hat, und da das Thema wie gesagt immer noch ein Tabu ist, sage ich auch: Chapeaux, dass dieses heisse Eisen überhaupt angefasst wurde und so detailliert seziert wurde.

Was mich persönlich ein wenig gewundert hat war Annies Naivität, in Bezug darauf, dass sie sich so unglaublich viel Zeit gelassen hat, wirklich eine Abtreibungsmöglichkeit aufzutun. Der Bericht fängt im Oktober an, und die Abtreibung selbst passiert erst Anfang Januar. Das war mein Punkt, wo ich mir ständig gedacht habe, wieso fährt sie jetzt noch eine Woche in Urlaub, wieso besucht sie jetzt noch ständig ihre Eltern in der Provinz, die Zeit eilt doch? Hm. Da hätte ich sie beim Lesen ein paar mal schütteln mögen. Aber wahrscheinlich war sie auch im Schock über ihre Situation gefangen.

Und was mir hier noch fehlt, ist die Frage nach dem ethischen Konflikt. Für Annie gab es kein Kind, es gab nur ein Ding. Hm. Ich merke, ich fange schon an zu werten.

Wie auch immer. Ich fand es eine sehr spannende literarische Aufarbeitung eines immer noch grossen Tabuthemas, und eine mutige Offenbarung. Gibt einem Stoff zum Nachdenken, wie immer man auch zu dem Thema als solches stehen mag.

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