von Marco Balzano

Diogenesverlag 2020

Wenn man im Vinschgau unterwegs ist und das Dörfchen Graun passiert, kommt man an einem Stausee vorbei, aus dem noch der halbe Kirchturm ragt. Dieses Bild ist auf dem Titel des Romans zu sehen, und der Autor ist der Frage nachgegangen, wie es hierzu kam: was verbirgt sich hinter dem Schauspiel des überflutetem Turms und dem Wasser, das die alten Dörfer Graun und Reschen verbirgt? Der Stausee im Vinschgau ist der grösste in Europa, und Balzano zeichnet dessen Entstehungsgeschichte nach. Im Mittelpunkt des Romans stehen aber die Menschen, die es betroffen hat, die Bauern, die in den abgelegenen Tiroler Dörfern lebten, und die ihre Heimat verloren haben, als ihre Häuser, Äcker und Plätze geflutet wurden.

Der Roman ist aus der Sicht von Trine erzählt, die in Graun auf einem Bauernhof zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufwächst, dort ihren Mann Joseph findet, heiratet, und fest in ihrem Dorf verwurzelt ist. Trine berichtet von ihrem Leben, ihren Idealen, ihren Träumen, ihrer Familie und ihren Freundschaften, die auch immer eng mit den politischen Verhältnissen verknüpft sind: In Südtirol folgen bruchlos Faschismus und Nationalsozialismus aufeinander, und als endlich scheinbar Frieden einkehrt in der Region, wird der Staudamm gebaut, dessen Planung schon seit langen Jahren immer wieder dunkle Schatten voraus wirft.

Die Thematik des Romans hat mich interessiert und fasziniert – ich kenne zwar den Staussee im Vinschgau nicht, aber bei uns in Hessen gibt’s den Edersee, und auch bei dem Projekt sind Leute zwangsenteignet worden und man hat Dörfer geflutet. Hier ragt kein Turm mehr aus dem Wasser, aber die Dörfer sind durchaus noch zu sehen, und ich hab mich immer nach den Hintergründen gefragt. Da kam mir „Ich bleibe hier“ sehr gelegen.

Ich muss allerdings sagen, ich bin mit meiner Bewertung etwas zwiegespalten. Einerseits war das ein klasse geschichtlicher Abriss über die Zeiten des italienischen Faschismus und den italienischen, bzw. Tiroler Einsatz im zweiten Weltkrieg, und auch das Projekt Stausee und Zwangsenteignung war sehr gut recherchiert dargestellt. Andererseits hat mich die Geschichte von Trine und ihrem Mann überhaupt nicht gepackt. Die beiden sind für mich recht distanziert beschrieben, und ich konnte keine Nähe aufbauen. Trine ist eine der wenigen ich ihrem Dorf, die halbwegs gebildet sind – sie ist Lehrerin, die meisten Dörfler Analphabeten – aber die Art, in der sie erzählt, ist manchmal eher altbacken illiterat. Dörflerisch eben. Soll wahrscheinlich Authentizität beweisen, ich fands eher anstrengend. Und ich konnte Trine auch öfters emotional nicht nachvollziehen. Ich hab ein paar Anläufe gebraucht, um das Buch zu beenden. Und dabei hat das ebook nur 193 Seiten. Also, interessantes Thema, definitiv, aber die Protagonisten haben mich nicht erreicht, und ich kann den überschäumenden Lobeshymnen, die ich zu diesem Buch gelesen habe, leider keine eigene hinzufügen. Ich hab allerdings schon mehrfach gelesen, dass die Übersetzung ein wenig holprig sein soll, ich kann es nicht beurteilen, da mein Italienisch nicht ausreicht, um das Original zu lesen, aber hey, ich gebe dem Autor durchaus noch weitere Chancen 😉. Ich gebe hier nur eine bedingte Empfehlung, aber Balzano ist der aktuelle Star der italienischen Literaturszene, also mal schauen, was er als nächstes schreibt.

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