von Goldie Goldbloom

Neuerscheinung 2021 im Hoffmann und Campe Verlag

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Surie Eckstein ist chassidische Jüdin aus New York, Williamsburg, 57 Jahre – und unerwartet schwanger mit Zwillingen. Katastrophe, denkt sie. Denn Surie ist schon 10fache Mutter und hat bereits sage und schreibe 32 Enkelkinder. Seit sie vor über 10 Jahren den Brustkrebs besiegt hat, ist ihr auch nie wieder der Gedanke an eine erneute Schwangerschaft gekommen….und jetzt fühlt sie sich alt, sehr alt. Zu alt. Und ausserdem, was sollen die anderen Gemeindemitglieder denken? Wie frivol, in dem Alter noch eine Schwangerschaft! Und so ist Surie in ihrem Denken und vor allem in ihrem Leben gefangen, und schiebt es vor sich her, ihrem Mann von dem neuem Nachwuchs zu erzählen. Man sollte meinen, das ist nicht so einfach, eine fortschreitende Schwangerschaft in einer Grossfamilie zu verheimlichen, doch was nicht sein darf, das ist auch einfach nicht. Punkt.

Und auch Lipa, der Sohn, der sich das Leben genommen hat, weil er als homosexueller Mann keinen Platz in der Familie und in der chassidischen Gemeinde hatte, existiert einfach nicht mehr. Für Surie aber wird gerade Lipa immer lebendiger, je länger sich ihr „Dilemma“ auswächst. Und Surie beginnt zum ersten mal in ihrem Leben all die starren Regeln zu hinterfragen, die ihren Alltag regeln und die sie prägen.

Nachdem ich schon Deborah Feldmans Roman „Unorthodox“ extrem interessant fand, habe ich voller Spannung auch „Eine ganze Welt“ lesen müssen. Auch hier ist die Autorin selbst chassidische Jüdin, und schreibt sozusagen „aus erster Hand“. Ich finde diese Einblicke in das Leben der strenggläubigen jüdischen Gemeinschaften echt fesselnd, weil deren Leben sich so dermassen von dem meinigen unterscheidet, es ist einfach nur krass. Mitten in New York, Brooklyn, leben Zehntausende Menschen wie vor mehr als 100 Jahren und komplett durchstrukturiert von biblischen Regeln. Frauen haben nicht viel zu melden und sind , so kam es mir speziell in diesem Roman auch vor, reduziert als Gebärmaschinen. Jedes fruchtbare Jahr ein Kind. Und da nicht jede Schwangerschaft erwünscht ist – siehe Surie – sind die seelischen Nöte bisweilen gross.

Ms Goldbloom schreibt eindringlich, mit einer Unmittelbarkeit, die das Buch zum pageturner macht. Wir sind ganz nah dran an Surie und ihrem Leben und ihrem Seelenfrieden. An ihrem Alltag. Und so oft wie ich den Kopf schütteln musste über die für mich skurrilen Lebensregeln der Chassiden, so oft wie ich Surie gerne geschüttelt hätte, so hat es die Autorin dennoch geschafft, mich zum Nachdenken zu bringen. Sind diese Frauen aus Suries Welt glücklich? Oder anders gefragt, sind wir westlichen, ach so gebildeten Frauen denn glücklicher? Ich glaube, wir sind oftmals nur anders. Surie ist mit vollkommen anderen Werten aufgewachsen, und wenn sie versucht, ihr Leben der „normalen“ westlichen Hebamme Val nahe zu bringen, bin auch ich teils echt ins Grübeln gekommen. Wollen nicht alle Menschen einfach nur geliebt werden? Und für Surie ist klar, sie lebt inmitten von Menschen, die sie lieben (… und denen sie lange Zeit trotzdem nicht die Wahrheit erzählen kann  —  !). Und so beginnt sie sich in ihrem „hohem Alter“ tatsächlich zu emanzipieren von Glaubenssätzen, die bislang sakrosankt waren. Surie ist keine Rebellin, nein, aber sie emanzipiert sich, ohne ihre Wurzeln zu verleugnen, und findet am Ende zu sich selbst. Und nein, es gibt kein komplettes Happy End. Es ist ein Ende mit Schmerzen, aber trotzdem eines, was stimmig ist, und mich mit einem Lächeln das Buch hat beenden lassen.

Dieses Buch eignet sich wunderbar für Diskussionen über (Doppel)-Moral, gesellschaftliche Regeln, Scham, und das Ego. Es werden viele Themen kritisch angesprochen, aber auch immer von mehreren Seiten beleuchtet. Faszinierende Einblicke in eine so komplett andere Welt.

Am Buchende gibt’s ein Glossar, um die vielen jiddischen Begriffe zu erklären – schöne Sache, das hab ich beim e-Book aber natürlich erst zum Schluss festgestellt. Hier wäre die Printausgabe die bessere Idee gewesen.

Auch die Infos zur Autorin stehen erst auf den letzten Seiten – wahrscheinlich beim Print im Klappentext – und das hätte ich hier auch gerne früher gesehen. Ms Goldbloom ist 8fache Mama und Aktivistin in der LGBT-Bewegung, also für eine Chassidin fast schon revolutionär, und das ist finde ich eine interessante Zusatzinfo.

Ich empfehle den Roman definitiv weiter!!

Vielen Dank an Netgalley.de für das Rezensionsexemplar!

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